Samstag, 2. Juli 2016

Doppelt und dreifach

aus der Serie: Nachrichten aus dem Paradies


In meiner Kindheit habe ich unzählige Bücher mehrmals gelesen, manche so oft, dass mir die Geschichten noch heute präsent sind, »die geheimnisvolle Minusch« von Annie M. G. Schmidt ist zum Beispiel so eine. Vor kurzem zog ich eine Geschichtensammlung von Enid Blyton aus einem Karton, in dem meine allerfrühesten Lektüren aufbewahrt werden, und beim Blättern erinnerte ich mich fast an jede Geschichte und auch an die dazu gehörigen Bilder: An die Hirten, die ihre Taschen an blattlose Pflanzen hängten und so dem »Hirtentäschel« seinen Namen verpassten. Ob es deshalb meine Lieblingspflanze ist? Oder an die Geschichte eines Regenschirms, der immer weiter verliehen wurde und schließlich doch wieder dort landete, wo er hingehörte, daran denke ich, wenn mal wieder jemand seinen Schirm bei mir vergessen hat, auch wenn der keinen so kunstfertigen Vogelkopfgriff hat, wie der Lektüren-Wanderschirm.

Esse ich Pflaumenmus, denke ich an den Igel, der, sich durch den Garten wälzend, reife Pflaumen auf seine Stacheln piekte, um sie dann mit seiner Elfenfreundin zu verspeisen.
An den chinesischen Mann im Kinderohr, der heute eigentlich als Super-App in jedem Smartphone als Super-Coach zu finden sein müsste, an die Kinderkaravane, die sich ganz ohne Erwachsene von einem in das andere Land rettete. Streichele ich einem Kater den Kopf, fühle ich nach, ob Hörner unter seinem Fell verborgen sind, was eindeutiges Zeichen dafür wäre, dass er eigentlich aus der Hölle kommt und zu faul ist, wieder dorthin zurück zu kehren, weil das Leben da zu anstrengend ist.

Ich habe viele Kartons mit Kinderbüchern, von jeder Geschäftsreise brachte der Vater etwas zu lesen mit, meine Kusine, die damals in einer großen Buchhandlung in Hannover arbeitete, beschenkte uns mit brandneuen Leseexemplaren und allen Klassikern der Kinderliteratur. Die Kinderkaravane, die Insel der blauen Delfine, alle Urmelbände von Max Kruse und die von Astrid Lindgren, Berg und Tal... der Abenteuer, Rätsel um..., Hatsipeng macht Kinder glücklich, Prinz Malle von Monopoli, der Löwe in der Grube, das Kravattenpferd, der geheime Garten, ein Mann für Mama, wir pfeifen auf den Gurkenkönig, der liebe Herr Teufel (und alles andere von Christine Nöstlinger), die Geschichte von Bollo, dem Leoparden, der kein Pelzmantel werden wollte, Otto ist ein Nashorn, die Mumins, Krabat und alle anderen Preusslers, die Chroniken von Narnia...  usw. usw.

Je älter ich wurde, desto seltener las ich Bücher ein zweites Mal (Ausnahmen wie Flauberts Madame Bovary bestätigen und überschreiten die Regel), und Bilder werden kaum noch so real in meinen Alltag eingebaut, wie die damaligen, die noch heute abrufbar sind.

Nun habe ich gerade »butchers crossing« von John Williams zum zweiten Mal gelesen. Vorher  flippte ich fast aus, versuchte krampfhaft den Anfangsmoment hinaus zu zögern und schlich zunächst erst einmal um das Buch, das ich mir nun zum zweiten Mal aus der Bibliothek geliehen hatte, herum – obwohl oder weil ich wußte, was mich erwartet. Tatsächlich?
Zu Beginn des ersten Lesemals im letzten Jahr keimte allerdings totale Enttäuschung. Blödes Genre. Wie kann der nur. Ein Western, ach nö, Western sind scheiße. Weitergelesen habe ich trotzdem – der Bonus, den John Williams sich durch sein geniales »Stoner« erschrieben hatte, war zu groß, um nach nur einigen Seiten aufzugeben.
Aber diesmal wußte ich ja schon, dass es ein Western ist und die Anfangsentäuschung und mein darauf folgender Sinneswandel würden fehlen. Was würde bleiben?
Alles andere und das viel größer als vorher: Der Sog, der in Höhen und Tiefen menschlicher Abgründe katapultiert und mitten in die Gewalt der Natur. Nächstes Jahr lese ich es wieder. Vielleicht auch schon früher. Momentan kein schöneres Ziel in Sicht, ist ja kaum auszuhalten...

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